Aber das ist nur ein Aspekt von Zeitzeugenschaft als Quelle für Informationen aus der Vergangenheit für euch. Denn ganz grundsätzlich sind Zeitzeuginnen und Zeitzeugen Menschen, die aus ihren eigenen Erinnerungen heraus von selbst erlebten historischen Ereignissen berichten können. Das kann eine einst vom Nazi-Regime verfolgte Person genauso sein wie eine frühere Leiterin eines Jugendhauses bei euch im Ort.
Eure Eltern können Zeitzeugen sein, wenn ihr sie zu ihren Erlebnissen in ihrer Jugend befragt. Oder Menschen in eurer Umgebung, die sich an den Beginn der Corona- Pandemie erinnern.
Hab ihr was bemerkt? Jeder Mensch hat Erinnerungen an etwas, das sie oder er in der Vergangenheit erlebt hat. Jeder Mensch kann also eine Zeitzeugin oder ein Zeitzeuge sein! Es kommt nur darauf an, welche Fragen ihr*ihm an die Vergangenheit gestellt werden.
Auch ihr seid Zeitzeuginnen und Zeitzeugen von Ereignissen, an die ihr euch bewusst zurückerinnern könnt. Jeder Mensch ist eine lebendige Verbindung zur Vergangenheit. Diese Erinnerungen sind nicht in Büchern, Dokumenten oder Archiven zu finden. Sie werden von den Menschen erzählt und enthalten Informationen, die für historische Forschungen relevant sein können.
Das Sammeln dieser Erinnerungen und Geschichten durch Gespräche oder Interviews kann eine wertvolle Informationsquelle für euer Projekt sein. Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sind also auch Quellen. Man nennt diese Methode auch oral history: mündlich überlieferte Geschichte. Um sie zu nutzen, müsst ihr wissen, welche Fragen ihr stellen wollt und wie ihr die Informationen in euer Geschichtsprojekt einfließen lassen könnt.
Bereitet euch gut auf das Gespräch vor:
1. Überlegt euch, wer als Zeitzeugin oder Zeitzeuge aufgrund der Herkunft, Geschichte, persönlichen Erfahrungen als geeignet erscheint. Lasst euch von anderen Menschen gern helfen, den Kontakt herzustellen.
2. Formuliert mehrere in einer logischen Reihenfolge stehende konkrete, offene Fragen, von deren Antworten ihr Informationen für euer Geschichtsprojekt erhofft. Je mehr Hintergrundwissen ihr bereits habt, desto gezielter könnt ihr Fragen formulieren.
3. Teilt der zu interviewenden Person schon im Vorfeld bei Kontaktaufnahme mit, zu welchem Zweck ihr das Interview führen wollt. Stellt euch und euer Geschichtsprojekt in einem Vorgespräch vor, damit die Person sich auf das spätere Interview vorbereiten kann.
4. Vereinbart unbedingt schriftlich, dass ihr das Interview gern als Audio oder Video aufnehmen wollt und Teile der Aufnahmen für euer Projekt verwenden könnt. Auf der Website dieses Guides findet ihr ein Formular, das ihr ganz einfach für eure Interviews anpassen und verwenden könnt. Wenn ihr weitere Profi-Tipps für die Interviews braucht, wendet euch am besten an eine der vielen Gedenkstätten in Sachsen. Sie kennen sich mit Interviews von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen besonders gut aus.
5. Habt ihr mehrere infrage kommende Gesprächspartnerinnen gefunden? Führt am besten mit jeder Person jeweils ein einzelnes Interview. Vermeidet Gruppengespräche (beispielsweise von Ehepaaren, Freunden, ehemaligen Arbeitskollegen). Das ist für eure Interviewführung und für die Erinnerungen der Gesprächspartnerinnen von Vorteil.
6. Schafft eine angenehme Atmosphäre für das Gespräch, damit ihr und die interviewte Person sich wohl fühlen. Achtet darauf, dass ihr das Gespräch über die gesamte Zeit an einem Ort führt, wo ihr durchgängig ungestört seid.
7. Checkt eure Aufnahmetechnik (Smartphone, Kamera usw.). Wie ist die Bildund Tonqualität? Reichen Akku und Speicherplatz für die die Interviewdauer? Sind der gewählte Bildausschnitt und Hintergrund ok?
Während des Gesprächs:
1. Beginnt das Interview mit einer freundlichen Begrüßung und erklärt noch einmal kurz, weshalb ihr das Interview führen möchtet. Egal, wen ihr interviewt: Seid immer respektvoll und sensibel, denn die Menschen teilen ihre persönlichen Erinnerungen, manchmal auch Emotionen mit euch und am Ende vielleicht auch mit der Öffentlichkeit.
2. Stellt eure Fragen ruhig und verständlich. Konzentriert euch auf das Gesagte, zeigt Interesse und Mitgefühl. Sich an die Vergangenheit zu erinnern, kann bei manchen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen Emotionen hervorrufen, gleich ob es sich um negative oder positive Erinnerungen handelt. Gebt genügend Zeit für die Antworten, unterbrecht die Zeitzeugin oder den Zeitzeugen nicht.
3. Passt darauf auf, dass ihr die Interviewten möglichst wenig mit Suggestivfragen beeinflusst. Aber: Nachfragen ist ausdrücklich erlaubt! Stellt zum Beispiel Nachfragen bei Verständnisschwierigkeiten oder wenn ihr etwas noch genauer wissen möchtet. Wie viele Leute waren damals an dem Ort? Welche konkreten Bands spielten damals in dem Jugendclub?
4. Lasst euch nicht ablenken: Zeitzeuginnen und Zeitzeugen schweifen in ihren Erinnerungen oft ab. Wenn das passiert, lenkt das Gespräch behutsam, aber klar wieder zu eurem Ausgangsthema und eurem Fragenkatalog zurück.
5. Deutet oder wertet während des Interviews noch nicht die euch erzählten Informationen.
6. Bedankt euch am Ende des Interviews für das Gespräch und bietet an, dass ihr euer Projektergebnis am Ende auch der interviewten Person vorstellen könnt. Ladet sie in euer Jugendhaus oder zu den Jugendgeschichtstagen ein, teilt ihnen eure Projekt-Website mit usw.
Nach dem Gespräch:
1. Jetzt könnt ihr in Ruhe gemeinsam die euch erzählten Informationen besprechen. Wie verhalten sie sich zu den Erkenntnissen aus anderen Quellen, die ihr bereits habt? Wie könnt ihr das Interview in euer Projekt einfließen lassen? Wollt ihr es als Film zeigen oder reicht euch das Gespräch, um eure Texte zu schreiben?
2. Identifiziert Schlüsselmomente oder interessante erzählte Details, die ihr in euer Projekt einfließen lassen wollt. Greift auch die Widersprüche auf, die ihr festgestellt habt zwischen dem euch Erzählten und den Informationen aus anderen Quellen.
3. Wenn ihr Teile des Interviews als Texte (für eure Ausstellung, Broschüre, Website usw.) verwenden wollt, dann transkribiert das Interview. Dafür gibt es gute Speech-To-Text-Tools.
4. Hebt das Interview gut und sicher auf. Beachtet den Datenschutz. Nur ihr dürft das Interview verwenden und Zugriff auf die Aufnahme haben. Am besten legt ihr die Interviewdaten zusammen mit der Einverständniserklärung am gleichen Ort ab.
Vor, während und nach dem Gespräch:
1. Seid euch bewusst, dass ihr eure Fragen aus einer von eurem Projektinhalt abgeleiteten Absicht heraus stellt. Euch interessiert in der Regel nicht das ganze Leben eines Menschen, sondern bestimmte Aspekte und Abschnitte seiner Lebens- und Erfahrungsgeschichte. Das ist auch voll in Ordnung so, denn wenn ihr nicht gerade eine Biografie schreiben wollt, müsst ihr von dem Menschen nicht alles wissen. Ihr interessiert euch für ein bestimmtes historisches Ereignis oder einen historischen Ort, zu dem eine Zeitzeugin oder ein Zeitzeuge aus der Erinnerung heraus etwas zu berichten hat.
2. Bei den Gesprächen geht es nicht darum, historisches Faktenwissen auszubauen. Ihr könnt aber in Erfahrung bringen, wie und woran sich Menschen erinnern und auf einen Teil der Geschichte zurückblicken.
3. Es kann passieren, dass eine Aussage einer Zeitzeugin oder eines Zeitzeugen im Widerspruch zu eurem Wissen steht. Unterstellt darin keine absichtlichen Falschaussagen. Menschen erzählen immer aus einer ganz persönlichen Sicht. Manche Ereignisse und Dinge aus der Vergangenheit werden mal mehr, mal weniger stark erinnert und erzählt. Erinnerungen verändern sich. Manche Fakten haben die Menschen verdrängt oder vergessen, über manche legen sich andere oder vermischte Erinnerungen.
4. Beachtet in der Auswertung der Interviews, dass Erinnerungen subjektiv sind und nur einen Teil der Gesamterzählung ausmachen. Je mehr Menschen ihr zu einer Sache befragt, desto mehr Antworten, zum Teil auch widersprüchliche könnt ihr erhalten. Sowas könnt ihr in der Gruppe auch mal ausprobieren. Mit diesen Informationen könnt ihr aber trotzdem weiterarbeiten in eurem Projekt. Wichtig ist, das in euren Projektergebnissen mitzuteilen. Entscheidet euch nicht für nur eine erzählte Geschichte oder einen in Erfahrung gebrachten Fakt, sondern ermöglicht eine Multiperspektivität.
5. Es ist möglich, dass im Verlauf eurer Interviews persönliche Verbindungen zu einigen Zeitzeuginnen oder Zeitzeugen entstehen. Auch das ist voll ok. Solche Interviews sind nicht nur für eure Forschungen wertvoll. Sie können auch dazu beitragen, dass Menschen unterschiedlicher Generationen und Herkünfte miteinander ins Gespräch kommen, Interesse aneinander entwickeln und sich aufeinander einlassen. Die Gesprächspartner*innen schätzen euer Interesse an ihrer Geschichte und ihren Erinnerungen. Durch euer Interesse gebt auch ihr etwas von euch in das Interview – eine Verbindung, die das Gespräch noch wertvoller macht.
Methode: Erinnerte und subjektive Geschichte
Mit dieser kleinen Übung könnt ihr selbst mal ausprobieren, dass Erzählungen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen subjektiv sind und sich für ein miteinander erlebtes Ereignis voneinander unterscheiden oder sogar widersprechen können.
Wählt aus eurer Gruppe zwei bis vier Leute aus, die ein Ereignis beschreiben sollen, das die gesamte Gruppe mal gemeinsam erlebt hat. Die ausgewählten Jugendlichen verlassen nun den Raum und haben einige Minuten Zeit, sich unabhängig voneinander an das Ereignis zu erinnern, ohne miteinander zu sprechen.
Nach Ablauf der Zeit holt ihr sie einzeln nacheinander zu euch. Sie teilen der gesamten Gruppe ihre Erinnerung an das ausgewählte Ereignis mit. Hört jeder Geschichte aufmerksam zu. Notiert euch Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede in den einzelnen Schilderungen.
Wenn alle ihre Version der Geschichte des Ereignisses erzählt haben, führt als gesamte Gruppe eine Diskussion darüber. Fragt euch, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Erzählungen aufgetreten sind. Warum gibt es trotz des gleichen Ereignisses Unterschiede in den Beschreibungen?
Überlegt nun, welche Erwartungen ihr an Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen habt und wie ihr eure Erkenntnisse für die Auswertung der Interviews anwenden könnt.
Die Vorlage einer Einverständniserklärung könnt ihr euch auf der Website des Guides herunterladen.